Keine Ausgangssperre, aber ein Kontaktverbot über den Kreis der Familie hinaus ist verhängt worden. Meine Kinder werden sich nicht mehr mit anderen zum Spielen treffen können. Die Urlaubspläne müssen überarbeitet werden, auch weil der Höhepunkt der Pandemie in Deutschland erst in vier Wochen erwartet wird. Beim Einkaufen sah ich schon am Samstag rote Markierungen auf dem Fußboden vor der Kasse, zum Abstand halten, alle drei Meter. Wie können wir das schaffen? In mir kommt eine Erinnerung hoch an – Nelson Mandela…
Mandela wurde als politischer Gefangener inhaftiert und blieb 27 Jahr lang in Isolationshaft auf Robben Island in Südafrika. Unsere Situation ist nicht ansatzweise mit dem Drama zu vergleichen, das er durchleben musste. Doch können wir umgekehrt von ihm lernen. 27 Jahre lang lebte er in einer Zelle von wenigen Quadratmetern. Um darin nicht zu verzweifeln hat er sich feste Strukturen gegeben, quasi selbst verordnet. Dazu gehörte es, jeden Vormittag 45 Minuten Dauerlauf zu absolvieren. Dauerlauf? Ja, und zwar auf der Stelle. Nennenswerte Distanzen konnte er schließlich nicht zurücklegen.
Ich staune vor so viel Disziplin und bin berührt, dass sie Nelson Mandela offensichtlich geholfen hat, innerlich wie äußerlich zu überleben. Ein Schicksal, das andere gebrochen hätte, konnte ihn nicht zerstören. Die Drangsal, die andere in den Hass getrieben hätte, konnte er überwinden und dennoch an seinem Wunsch nach Frieden festhalten. Die drei Menschen, die wir in der Christuskirchengemeinde in den vergangenen Jahren im Kirchenasyl betreut haben, litten erkennbar unter der eingeschränkten Bewegungsfreiheit, auch wenn diese jeweils „nur“ knapp ein halbes Jahr galt. Sie können schön eher nachvollziehen, wie es Mandela zumute gewesen sein könnte, aber selbst sie…
Nein, unsere Situation ist nicht ansatzweise vergleichbar mit der des südafrikanischen Freiheitskämpfers. Und doch, lernen können wir von ihm: Es ist unendlich wichtig, sich selbst und seinen Alltag zu strukturieren, sich nicht gehen zu lassen. Es hilft, sich einen Plan für jeden kommenden Tag zu machen, auch wenn so vieles nicht mehr möglich ist. Jetzt gehört es zu so einem Tagesplan vielleicht auch sich zu notieren, wen man mal wieder anrufen möchte, welches Buch schon lange gelesen werden will, um wieviel Uhr eine Viertelstunde Frischluft am offenen Fenster angesagt ist. Solche Ordnungen zu definieren kann Halt bieten, wenn wir uns selbst zu verlieren drohen.
In alter Zeit staunten die Autoren der Bibel über die Güte Gottes nicht nur, wenn er Wunder tat. Sondern auch wenn sie erkannten: Gott hat allem eine wunderbare Ordnung eingeschrieben. „HERR, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.“ (Ps 104,24) Auch wenn wir sie heute meist nicht mehr auf Gott beziehen, können wir doch immer noch ganz ähnlich staunen: Der Zug der Vögel, der Tanz der Bienen, wie Blumen sich entfalten, das Werden und Vergehen und Neuentstehen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Es ist wunderbar und weise geordnet. Danke… Gott?
Wenn wir den oder das, was dahinter steckt, „Gott“ nennen dürfen, dann kann er oder sie uns vielleicht auch helfen, eine eigene Ordnung in unserem Leben aufrecht zu erhalten. Trotz aller Einschränkungen und Kontaktverbote. Vielleicht ist ein kurzes Gebet der Anfang davon, dass wir seine heilsam ordnende Kraft in unser Leben hineinlassen, auch und gerade in diesen Tagen jenseits jeder vertrauten Ordnung?
Gott, ich bitte dich: Sei mir nahe. Hilf mir wahrzunehmen, was in mir ist. Kraft und Mutlosigkeit, Liebe und Angst, Hoffnung und Frustration. Hilf mir zu benennen, was mich bewegt, damit es mich nicht quält, und zu teilen, was mich belastet, damit ich es nicht alleine tragen muss. Hilf mir Ideen zu spinnen und Räume zu finden, in denen ich Dinge und Menschen aufbauen kann, damit Leidenschaft und Energie nicht vergebens sind. Hilf mir zuletzt auch, mich selbst und alle meine Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu sammeln und zu sortieren, damit ich nicht untergehe im Chaos dieser Tage, sondern den Überblick behalte, den du mit schenken kannst und willst. So sei mir und allen Menschen nahe. Amen.
Wenn alles gut läuft, dann werden Chaosmächte uns nicht überwinden, uns persönlich nicht, uns als Gesellschaft nicht. Wenn es gut läuft, dann bleiben wir selbst mit Gottes Hilfe am Steuer unseres Lebens, so wie Nelson Mandela. Geholfen hat ihm in den dunklen Jahren auch ein Gedicht von William Ernest Henley mit dem Titel „Invictus“ (lateinisch für „unbezwungen“). In einer deutschen Übersetzung heißt es in der ersten Strophe:
Aus finstrer Nacht, die mich umragt, / durch Dunkelheit mein’ Geist ich quäl. / Ich dank, welch Gott es geben mag, / dass unbezwung’n ist meine Seel.
Die letzte Strophe klingt auf Englisch besser:
It matters not how strait the gate, / How charged with punishments the scroll, / I am the master of my fate: / I am the captain of my soul.
„I am the captain of my soul“, ich bleibe am Steuer meines Lebens, das Chaos wird mich, wird uns nicht überwinden. Dabei helfe uns Gott, der die Ordnung liebt und sie geschaffen hat.
Ihr / Euer Pfr. Ingo Schütz
P.S.: Wer beim Lesen des Lukas-Evangeliums mitmacht: Heute ist Kapitel 4 an der Reihe – Jesu wird vom Teufel versucht…
Geistlich leben - jetzt erst recht: Das ist unsere Devise in der Christuskirchengemeinde Bad Vilbel. Während der Corona-Krise wollen wir nicht einfach nur alles absagen, sondern neue Wege eröffnen, wie wir unseren Glauben gemeinsam leben können, trotz des gebotenen Sicherheitsabstands. Dazu gehört auch der tägliche Impuls auf der Homepage. Die Impulse der vergangenen Tage finden Sie gesammelt unter https://www.ckbv.de/index.php/download/taeglicher-impuls. Weitere Infos entnehmen Sie bitte unserer Pressemitteilung: https://ckbv.de/index.php/veranstaltungshinweise/1785-aktuelle-mitteilung.