Übermorgen feiern wir Gründonnerstag. Die Karwoche geht damit in die „heiße Phase“. Zusammenkommen dürfen wir als Gemeinde weiterhin nicht. Wer an Gründonnerstag ein Tischabendmahl in „häuslicher Andacht“ feiern und sich darin mit anderen verbunden wissen möchte, findet am Ende des heutigen Impulses Hinweise zur Vorbereitung. Vorher aber geht es um einen Mann, der unfreiwillig ganz nah dran ist an Jesus in diesen Tagen: Barabbas…
Was für ein verrücktes Schicksal dieses Menschen, über den wir so wenig wissen. Einer jüdischen Tradition zufolge sollte der römische Statthalter beim Passahfest einen Inhaftierten freigeben. Pilatus stellte dem Volk Jesus von Nazareth und Barabbas zur Auswahl. Die Menschen, die wenige Tage zuvor noch „Hosianna!“ gerufen hatten, als Jesus nach Jerusalem kam, riefen nun „Kreuzige ihn!“ und bestanden darauf, dass Barabbas freigegeben würde.
Wie er sich wohl gefühlt haben mag? Barabbas war als Krimineller gefangen genommen wurden. Welche Schuld er auf sich geladen hatte, ob er wirklich etwas verbrochen hatte, das wissen wir nicht. Die Freilassung kam für ihn aber mit Sicherheit überraschend. Wer hätte erwartet, dass die Menschen lieber den offensichtlich unschuldigen Nazarener am Kreuz sehen – selbst Pilatus bezeugt ja, dass Jesus offenbar kein Verbrechen begangen habe – als Barabbas, bei dem es wohl einen handfesten Grund für seine Gefangenschaft gab?
Ungläubige Staunen, Freude, vielleicht auch Dankbarkeit: So könnte Barabbas sich gefühlt haben. Vielleicht hat sich auch etwas in ihm verändert, als er unverdient freikam und noch einmal neu anfangen konnte. Was auch immer er an Schuld auf sich geladen hatte, vielleicht konnte er es wieder gut machen. So, wie es in vielen anderen Geschichten passiert, wenn Jesus das Leben von Menschen verändert. Der biblische Bericht schweigt sich über das weitere Schicksal von Barabbas aus. Und das könnte einen Grund haben…
So fest sein Name für uns mit der Passionsgeschichte verbunden ist – schließlich wird von ihm in allen vier Evangelien berichtet, was für Details der Erzählungen nicht immer gilt – so unwahrscheinlich ist die Geschichte im historischen Sinne. Von einer vergleichbaren „jüdischen Tradition“ ist nämlich außerhalb der Evangelien nichts bekannt. Und wie seltsam wäre es auch, wenn die römischen Besatzer jährlich einen jüdischen Verbrecher „al gusto“, auf Wunsch des Volkes, freigelassen hätten! Denkbar ist stattdessen, dass es sich um eine Symbolgeschichte handelt, durch die etwas Anderes deutlich wird.
Dafür spricht auch der Name des Delinquenten. „Barabbas“ ist Aramäisch und bedeutet „Sohn des Vaters“ – als sprechender Name bezeichnet das jeden beliebigen Mann (die weibliche Form wäre übrigens: Bathabbas). Das heißt: Womöglich sind Du und Ich gemeint, die wir Schuld auf uns geladen haben und unverdient freikommen.
Exkurs: Eine andere von mehreren möglichen Lesarten der Geschichte ist die, dass hierdurch den Juden eine Kollektivschuld zugewiesen werden sollte, schließlich seien sie es gewesen, die Jesus ans Kreuz gebracht haben. Diese Deutung, die über Jahrhunderte für Unheil gesorgt hat, könnte sogar von den Autoren der biblischen Texte bewusst in Kauf genommen worden sein, verbietet sich aber von selbst und widerspricht insbesondere allem, was wir von Jesu Worten und Wirken wissen. Andere Deutungen identifizieren Jesus selbst – den Sohn von Gott Vater, also auch ein „Barabbas“ – in einer Art Strohpuppentheater mit dem Freigelassenen, so dass die Kreuzigung nur eine Show gewesen wäre und Jesus selbst nach Indien hätte auswandern können, wo er seine Lehre verbreitet habe und mit 120 Jahren alt und lebenssatt gestorben sei. Das ist zumindest abenteuerlich…
Wenn wir uns darauf einlassen, fügt sich der Gedanke gut ein in die christliche Tradition: „Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“ So dichtet Paul Gerhardt in seinem bekannten Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85,4). Barabbas ist der Schuldige, der freikommt, während der Unschuldige leidet und anderen das Heil bringt. Wir selbst sind es, die im täglichen Umgang mit unseren Nächsten und Fernsten, mit der Schöpfung, mit uns selbst und mit Gott als dem tragenden Grund des Lebens Schuld auf sich laden…
Moment mal: Wir selbst sind schuld? Ich selbst? Im Gegenteil: Die da oben… Die Politiker… Oder die Chinesen… Auch in der Corona-Krise werden von manchen Akteuren Schuldige gesucht und benannt – natürlich sind es immer die anderen. Zu den Grundgedanken des christlichen Glaubens gehört es aber, sich selbst einzugestehen: Ich gehöre mit zu denen, die Schuld auf sich geladen haben. Die eilige Ausbreitung des Virus um die ganze Welt ist nicht zuletzt eine Folge der rasanten Globalisierung, und an der hat jeder Mensch Anteil, der gerne in anderen Länder fliegt, gerne günstiges Spielzeug aus Fernost bestellt, gerne ein paar Zehntelprozent mehr Rendite hätte, was die Anbieter solcher Finanzprodukte nur durch ihr ökonomisches Engagement weltweit realisieren können. Wir hängen da alle mit drin…
Der Gedanke lässt sich beliebig auf alle anderen Felder menschlichen Lebens übertragen. Familie. Nachbarschaft. Klima. Dritte Welt. Wir hängen da überall mit drin, wenn es um Schuld und Verstrickung geht. Und kommen doch überall immer wieder frei. Während andere leiden. Menschen in anderen Erdteilen tragen Leid, das durch unseren Wohlstand mit verursacht wird. Unser Planet, Flora und Fauna leiden und sterben, damit wir unsere Freiheit nicht einschränken müssen. Jesus, der Unschuldige, stirbt während Barabbas, der Schuld auf sich geladen hat, freigelassen wird… Wenn ich mir so manche globalen Zusammenhänge und Verstrickungen klarmache und ahne, wie gut es uns geht, dann fühle ich: Ungläubiges Staunen, Freude, Dankbarkeit. Aber ich will auch manches verändern, neu anfangen, etwas wieder gut machen. Wenigstens im Rahmen meiner Möglichkeiten, die freilich (auch das zeigt die Corona-Krise) größer sind als gemeinhin angenommen…
Ob uns das gelingt? Wenn wir diese Krise überstehen und unverdient wieder anknüpfen können an dem, was bisher war? Ob es uns gelingt, das Klima doch noch zu retten, die Familie doch noch zu versöhnen, den Hunger und das Leid in anderen Erdteilen doch noch zu besiegen, die Außenseiter aus der Nachbarschaft doch noch zu akzeptieren? Darüber, wie es mit Barabbas weitergegangen ist, nachdem er freigekommen war, gibt es keinen Bericht. Vielleicht, weil wir selbst diese Geschichte weiterschreiben müssen…
Gott, so langsam wird mir klar: Bei ganz vielen Krisen stecke ich mit drin und bin ein Teil des Problems. Das macht mich traurig. Es tut mir Leid. Bitte zeige mir, bitte zeige uns, wie wir Teil der Lösung sein können. Bitte steh uns bei, wenn wir für das Gute und das Richtige einstehen, auch wenn es weh tut oder Verzicht bedeutet. Bitte schenke uns deine Wunder, die uns helfen, Krisen zu überwinden und vieles zu verändern, damit wir leben können, wie du es dir erträumst und selber vorgelebt hast. Amen.
Wenn Sie möchten, wenn ihr möchtet, dann lasst uns das Lied singen, in dem Paul Gerhardt darüber staunt, wie Jesus auf sich nimmt, was wir verschuldet haben:
4. Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.
9. Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.
Herzlich grüßt
Ihr / Euer Pfr. Ingo Schütz
P.S.: Wer an Gründonnerstag in „häuslicher Andacht“ Abendmahl in der Tradition des jüdischen Passahmahls feiern möchte, wie wir es an diesem Tag bisher immer gemeinsam in der Christuskirche getan haben, der braucht: Radieschen oder Sellerie (eine „bittere Erdfrucht“), Apfelmus, Wein oder Traubensaft, Matzen = ungesäuertes Brot (Backanleitung HIER). Am Donnerstag gibt es auf www.ckbv.de einen Impuls zum Feierabendmahl und eine "Kurzanleitung".
P.P.S.: Wer beim Lesen des Lukas-Evangeliums mitmacht: Am heutigen Dienstag ist Kapitel 19 an der Reihe.
Geistlich leben - jetzt erst recht: Das ist unsere Devise in der Christuskirchengemeinde Bad Vilbel. Während der Corona-Krise wollen wir nicht einfach nur alles absagen, sondern neue Wege eröffnen, wie wir unseren Glauben gemeinsam leben können, trotz des gebotenen Sicherheitsabstands. Dazu gehört auch der tägliche Impuls auf der Homepage. Die Impulse der vergangenen Tage finden Sie gesammelt unter https://www.ckbv.de/index.php/download/taeglicher-impuls. Weitere Infos entnehmen Sie bitte unserer Pressemitteilung: https://ckbv.de/index.php/veranstaltungshinweise/1785-aktuelle-mitteilung.